Publikationen

Karin Rase: Kunst und Sport.
Der Boxsport als Spiegelbild gesellschaftlicher Verhältnisse, Frankfurt am Main (u. a.), 2003.
ISBN 3-631-50939-1

„Also: man vernehme wieder einmal die Stimme der Kunst! Man gehe zu Sternheim und lerne Tasso – man gehe zu Flechtheim und lerne – das Boxen. Sie wissen nicht, was Boxen mit der Kunst zu tun hat? Aber mein Verehrtester, welche Rückständigkeit!“83

Der Düsseldorfer Galerist, Kunstsammler und Verleger Alfred Flechtheim, der am 1. Oktober 1921 am Lützowufer 13 in Berlin eine Filiale seiner Galerie im Rheinland eröffnete, begeisterte sich mit derselben Leidenschaft für den Boxsport wie für die Kunst seiner Zeit.84 Flechtheim unterhielt internationale Geschäftsbeziehungen nach Paris zu dem erfolgreichen Kunsthändler Daniel-Henry Kahnweiler, der ihm Werke der avantgardistischen französischen Künstler vermittelte.85 Noch bevor Flechtheim als Galerist und Kunsthändler tätig wurde, organisierte er mit Wilhelm Uhde, Kahnweiler und dem Prager Kunsthistoriker Dr. Vincez Krámar bereits 1911 die erste Picasso Ausstellung in Deutschland bei Thannhauser (München). Er war Mitorganisator und Schatzmeister der Sonderbund-Ausstellungen in Düsseldorf (1910) und Köln (1912), die im Westen Deutschlands erstmals zeitgenössische französische und deutsche Malerei nebeneinander zeigten.86 (…) Während seiner Aufenthalte in Paris verkehrte Flechtheim ebenso wie die meisten jungen deutschen Künstler im Kreis des Café du Dôme, jenem Zirkel von Künstlern, Schriftstellern und Kunstsammlern, die hier über alles Neue in Kunst und Kultur diskutierten.87 In diesem Kreis knüpfte der Galerist geschäftliche und freundschaftliche Kontakte zu Künstlern, die sich auf dem Kunstmarkt in Deutschland bis dahin noch kaum etabliert hatten. Dazu gehörten Rudolf Groß­mann, Ernesto de Fiori und Renée Sintenis. Flechtheim stellte die jungen Künstler nicht nur in seiner Galerie aus, sondern vermittelte ihnen darüber hinaus auch Ausstellungen in anderen deutschen und internationalen Kunstzentren. Seine offensive Kunstvermittler-, Galeristen- und Verlegertätigkeit trug zur Öffnung des Berliner Kunstmarktes bei, der bis dahin noch immer von dem Konflikt zwischen Akademismus und Moderne geprägt war. Berliner Treffpunkt der Dômiers wurde das Romanische Café.88 (…)

Alfred Flechtheims Verdienst war es, daß er neben den Etablierten auch junge Künstler zu protegieren versuchte. Dazu gehörten z. B. de Fiori, Laurencin, Levy, Gris, Sintenis und Waetjen. Er förderte seine Künstler nicht nur, indem er ihnen Ausstellungen vermittelte und ihre Werke an Museen verkaufte. Darüber hinaus verschaffte er ihnen auch Beziehungen und Aufträge, indem er sie einem kunst- und kulturinteressierten Publikum auf privater Ebene bekannt machte. Daher inszenierte der Kunsthändler sowohl in seiner Berliner Privatwohnung als auch in seinen Galerieräumen zahlreiche Soiréen, Kostüm  und Maskenbälle, Geburtstagsfeste, zu denen nicht nur seine Künstler geladen waren, sondern auch Schauspieler, Theaterleute, Schriftsteller, Journalisten, Showstars, Bankiers, Museumsdirektoren und mit besonderer Vorliebe die erfolgreichen Boxer.93 Alfred Flechtheim galt in seinem Bekannten- und Freundeskreis wie in der Kulturszene als Liebhaber von Boxkämpfen. Schon vor dem vor dem Ersten Weltkrieg verfolgte Flechtheim zusammen mit dem Bildhauer de Fiori in Paris die ersten Triumphe Georges Carpentiers.94 Gegen Ende der Zwanziger Jahre reiste Flechtheim zusammen mit dem Dirigenten Leopold Stokowski und dem Bildhauer Rudolf Belling, der selbst ein begeisterter Sportler war und wie Georges Braque auch selbst boxte, nach Leipzig, um den Titelkampf zwischen Max Schmeling und Hein Domgörgen zu sehen.95 Flechtheim machte die Boxidole und ihren Sport nicht nur in der bürgerlichen Gesellschaft salonfähig, sondern er animierte seine Künstler mit Erfolg, die großen Boxer jener Jahre zum Thema ihres künstlerischen Schaffens zu machen. Als Flechtheim im Januar 1921 das Kulturmagazin Der Querschnitt gründete96, schuf er damit nicht nur ein Spiegelbild der geistigen Kultur der Zwanziger Jahre, sondern frönte gleichzeitig seiner Leidenschaft – dem Boxen.97

Der Berliner Schriftsteller Walter Mehring, in den Zwanziger Jahren berühmt für seine politischen Chansons, verfaßte anläßlich des 50. Geburtstags Flechtheims ein Gedicht, in dem er Persönlichkeit und Leidenschaften seines erfolgreichen Kunst  und Boxfreundes pointiert zum Ausdruck bringt.

„Der Gott, der Querschnitt
wachsen ließ,
Hosiannah auf Saxophonen blies,
Erhalte Dir Dein Prestige!
Mix Dir aus Schmeling Picasso
Den Weddercibbler-
Manhattancocteau!
Proust, Flechtheim!
Snoblesse oblige!“ 98

83 Vgl. Frankenberg 1970, S. 68.

84 Zu Leben und Wirken von Alfred Flechtheim vgl. grundlegend AK Düsseldorf 1987: Alfred Flechtheim.

85 Zu Daniel Henry Kahnweiler siehe AK Düsseldorf 1994: Die Sammlung Kahnweiler; Kahnweiler 1961.

86 Flechtheim 1970, S. 152f.

87 Vgl. Ahlers-Hestermann 1918, S. 369ff. sowie Rudolf Großmann 1922, S. 29ff.

88 Vgl. Flechtheim 1970, S. 156; Schebera 1990.

93 Vgl. dazu auch Schmeling 1987, S. 21.

94 Vgl. Flechtheim 1970.

95 Vgl. dazu Schmeling 1977, S. 83; zu Rudolf Bellings sportlichen Ambitionen siehe Grzimek 1969, S. 144f.; siehe auch Belling 1970, 445f.; Meisl 1928, S. 83; Roth 1990, S. 72ff.

96 Der Querschnitt war das Ergebnis seines Protestes gegen das rheinländische Luxussteuergesetz; Flechtheim verzichtete – wie andere rheinische Galeristen – auf ein Ausstellungsprogramm sowie Kataloge und gab stattdessen den ersten Querschnitt mit dem Untertitel Mitteilungen der Galerie Flechtheim heraus; siehe Flechtheim 1921, S. 11 sowie Vömel 1967, S. 113.

97 Vgl. dazu Vömel 1967, S. 93ff. Der erste Querschnitt soll laut Mittenzwei 1986, Bd. 1, S. 214 (Anm. 9) und Berg 1995, S. 138, Anm. 18 mit dem Untertitel: „Magazin für Kunst, Literatur und Boxsport“ erschienen sein. Diese Behauptung ist anhand der Quellen nicht nachzuvollziehen. Le­diglich im 4. Jg., H. 2/3 des Querschnitt taucht „Boxen“ als Begriff auf dem Titelblatt im Inhalts­verzeichnis auf: „96 Seiten Text und 136 Abbildungen nach griechischen Gemälden und moderner Kunst, Bildnisse von ... Royalties/Boxern/Drachen und Nilpferden.“

98 Zit. nach AK Düsseldorf 1987: Alfred Flechtheim, S. 182; Vömel 1967, S. 95. Anläßlich seines 50. Geburtstages wurde Flechtheim mit einem Extra-Heft Der Querschnitt durch Alfred Flechtheim am 1. April 1928 gewürdigt. Dieses Heft versammelt Zeichnungen und Gedichte zahlreicher Gratulanten aus Kunst und Kultur. Treffend ist in diesem Zusammenhang auch eine Karikatur von Karl Hofer, die Flechtheim engelsgleich und mit erhobener Faust in einem Boxhandschuh gen Himmel schwebend zeigt; siehe dazu auch Witt 1997, S. 29; vgl. auch Witt 1996 (2).