Publikationen

Von Artischocken und anderen Herzen:
Yvonne Kendall, Henning Eichinger; Skulptur und Malerei;
Marburger Universitätsmuseum für Kunst und Kulturgeschichte,
7. März bis 12. April 2004; Städtische Galerie Reutlingen,
13. November 2004 bis 13. Februar 2005.

ISBN 3-933820-62-6

(…) Henning Eichinger entwickelte seine Serie gemalter Gehirne „Brain I-IV“ (2001), die er jeweils mit einer invers dargestellten Schere, Dornenzweigen, Silhouetten von chinesischen Ton-Pferden und einer Schaufel in Beziehung setzt, für die eingangs erwähnte Ausstellung BRIANPOOL zu einer wandfüllenden Installation weiter 7: Die Komplexität des Gehirns und die beeindruckenden Leistungen, zu denen es in der Lage ist, werden hier vor allem durch die Kombination mit weiteren Gegenständen wie etwa einem dornenbesetzten, stählernen Dübelring und Tier-Motiven (Hase, Molche, Käfer, Igel) sichtbar. Diese Bildserie verweist auf Funktionen des Gehirns wie das Sammeln und Selektieren von Informationen und die Koordination von Meldungen der Sinnesorgane. Durch die Hirn-Gegenstand- oder Hirn-Tier-Verknüpfungen versetzt der Künstler die Phantasie des Betrachters in Bewegung. Eichingers Gehirne sind überdimensional, die Leinwände wirken fast zu klein, die Gemälde könnten Aufnahmen aus dem All sein. Wie Planeten im Universum schweben sie beinahe transparent im lichten weißen Raum. Festgehalten werden sie, so scheint es, lediglich durch die kontrastierenden, teilweise schwarzen Felder im unteren Bildrand, die Gegenstände wie chinesische Ton-Pferdchen, Schere oder Schaufel freigeben und die durchsichtig sind.

Yvonne Kendalls Gehirne hingegen – fragile, weiße Gebilde, Multiples aus Kreppapier, Wachs und Zeitungen, die sie in Hilden mit Büchern und Schriften Fabrys in eine lockere Verbindung brachte und die hier auf den Intellekt und das Schaffen des Chirurgen anspielten – wuchsen später in ihrer Arbeit „Sleep Absorbtion“ (2004) aus rosa-weiß-karierten Steppmatratzen hervor (siehe hier die Ausstellung BRAINPOOL und von artischocken und anderen herzen, Reutlingen). Diese Matratze-Hirn-Verbindung führt uns unmittelbar in die unzugängliche Welt des Schlafs, des Unterbewussten, der Träume (das Gehirn als ‚Dreambox’) und des Gedächtnisses. Die Matratzen saugen hier im übertragenen Sinne Gedanken, Erfahrungen, Erinnerungen und Seelenschmerz auf; Kendall zeigt, das Matratzen und Gehirne gleichermaßen als Speichermedium fungieren. Die Vorstellung vom Gehirn als Speicher zeigt sich in ihrer Arbeit „Archimedes’ Daughter“ (2004) noch einmal auf andere Weise: die Gehirne bestehen – wie man unter dem Weiß teilweise sieht – aus Zeitungspapier, das heißt, Informationen, Ereignisse und Geschichten bilden das ‚Material’, welches das Gehirn verarbeitet. Zudem versinnbildlicht die Künstlerin in ihrer raumgreifenden Plastik, die aus mehreren Putzeimern aus Kreppapier und Wachs, und einer Vielzahl von Gehirnen besteht, die Entdeckung des Auftriebs8 durch den großen griechischen Mathematiker Archimedes (geb. 285 v. Chr. In Syrakus). Die Idee für das Werk „Archimedes Daughter“ (2004) entstand aus eine Kindheitserinnerung der Künstlerin: I remember sitting on the beach with my dad putting stones in a bucket to make the water flow over.“ (...)


7 Eichinger konzipierte bereits für Ausstellungen wie „Copybilder“ im Museum am Ostwall, Dortmund 1995 oder „Das geheime Leben der Fliegen“, Galerie Epikur Wuppertal, 1999 (Ausstellungskatalog) wandfüllende Installationen seiner Malerei.

8 Ein Körper, den man in eine Flüssigkeit taucht, verdrängt ein Volumen der Flüssigkeit, die seinem Eigenen entspricht. Archimedes Prinzip sagt, dass ein Objekt, das in eine Flüssigkeit getaucht wird, leichter erscheint: es wird von seiner Kraft nach oben gedrückt. Diese aufsteigende Kraft entspricht dem Gewicht der verdrängten Flüssigkeit: Sie wird von der Flüssigkeit ausgeübt als „Schubkraft des Archimedes“ bezeichnet.